Aktionäre werden sich bald auf niedrigere Abfindungen bei Squeeze-outs und anderen Strukturmaßnahmen einstellen müssen. Der BGH hat mit Beschluss vom 19. Juli 2010 – II ZB 18/09 – „Stollwerck“ (laut Pressemitteilung vom 27. Juli 2010) auf Vorlage mehrerer Oberlandesgerichte seine Rechtsprechung zum Referenzzeitraum für die Bestimmung der Squeeze-out Abfindung grundlegend geändert. Worum geht es?
§ 327a Abs. 1 AktG erlaubt bei einer Beteiligung von 95% den Ausschluss von Minderheitsaktionären gegen eine „angemessene Abfindung“. Nach § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG muss die Barabfindung „die Verhältnisse der Gesellschaft im Zeitpunkt der Beschlussfassung ihrer Hauptversammlung berücksichtigen“. Im Anschluss an den DAT/Altana Beschluss des BVerfG hatte der BGH im Jahr 2001 in gleicher Sache entschieden, dass Untergrenze für die Barabfindung der durchschnittliche Börsenkurs der letzten drei Monate vor der Hauptversammlung ist, die über die abfindungspflichtige Maßnahme beschließt.
Dieser Stichtag führt zu zwei gravierenden Problemen:
- Die Maßnahme muss lange vor der Hauptversammlung angekündigt werden. Spätestens wenn die vorgesehene Abfindung bekannt gemacht wird, wird der Kurs von Abfindungsspekulationen bestimmt. Die Abfindung wird damit von einem Börsenkurs abhängig gemacht, der sich seinerseits nach der Höhe der angebotenen Abfindung entwickelt.
- Zur Einberufung der Hauptversammlung, also ungefähr sechs Wochen vor dem Stichtag, muss ein Bericht vorgelegt werden, in dem unter anderem die Angemessenheit der Barabfindung erläutert und begründet wird (§ 327c Abs. 2 Satz 1 AktG für den Squeeze-out). Wie aber soll das gehen, wenn der als Untergrenze relevante Börsenkurs erst am Tag der Hauptversammlung feststeht?
In Übereinstimmung mit großen Teilen der rechtswissenschaftlichen Literatur hat erstmals im Jahr 2007 das OLG Stuttgart diese Auslegung abgelehnt (siehe „Umbruch bei Squeeze-out Abfindung?„). Nach dessen Meinung ist der nach Umsätzen gewichtete Durchschnittskurs in einem Referenzzeitraum von drei Monaten vor Bekanntgabe der Maßnahme zugrunde zu legen. Dem hatten sich danach auch die OLG in Frankfurt und Düsseldorf angeschlossen.
Durch das Abstellen auf einen Zeitraum vor Bekanntwerden der Maßnahmen bekommt man einen „spekulationsfreien“ Durchschnittskurs. Dafür spricht auch die entsprechende Rechtslage bei Übernahme- und Pflichtangeboten. Denn auch nach § 31 Abs. 1, Abs. 7 WpÜG in Verbindung mit § 5 WpÜG-Angebotsverordnung muss die Gegenleistung mindestens dem gewichteten durchschnittlichen Börsenkurs während der letzten drei Monate vor der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe des Angebots (Übernahmeangebote) oder des Kontrollwechsels (Pflichtangebote) entsprechen. Schließlich hatte auch das BVerfG in einem Beschluss aus dem Jahr 2006 festgestellt, es sprächen „gute Gründe für die im Schrifttum geäußerte Ansicht …, wonach auf einen Durchschnittskurs im Vorfeld der Bekanntgabe der Eingliederungsmaßnahme zurückzugreifen ist.“
Dem ist der BGH nunmehr gefolgt. Der Zeitraum der letzten drei Monate vor der Bekanntgabe sei, so der BGH, besser geeignet, den Verkehrswert der Aktie zu ermitteln, als ein mit dem Tag der Hauptversammlung endender Referenzzeitraum. Im konkreten Fall stand der BGH allerdings vor dem Sonderproblem, dass die Maßnahme bereits neun Monate vor der Hauptversammlung bekannt gegeben wurde. Dies soll dadurch verhindert werden, dass der Börsenwert entsprechend der allgemeinen oder branchentypischen Wertentwicklung unter Berücksichtigung der seitherigen Kursentwicklung hochgerechnet wird.
In jedem Fall gilt: Durch das Ausblenden von Abfindungsspekulationen wird die Abfindung im Regelfall deutlich niedriger als bei Berücksichtigung des Zeitraums nach Bekanntwerden der Maßnahme ausfallen. Die Entscheidung hat nicht nur Bedeutung für den Squeeze-out, sondern auch für andere Strukturmaßnahmen mit Pflicht zur Barabfindung wie etwa Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge (§ 305 AktG) und Eingliederungen (§ 320b AktG).
Die Kehrtwendung des BGH ist schwer nachzuvollziehen. Der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Squeeze Out (es wundert mich immer wie der selbstverständlich dieser abfällige Begriff aus dem amerikanischen Sprachgerauch „eingedeutscht“ wurde)wird von dem Großaktionär bestimmt. Der Aktienkurs von Unternehmen mit einem Streubesitz von 95% selber bezahlt hat, als Untergrenze unberücksicht bleiben, ist völlig unverständlich.
Folge ist, dass in 90% aller Squeeze Outs eine Nachzahlung fällig wird. Durchschnittlich wird eine Nachzahlung von 15% fällig.
Ob sich diese Zustand durch die neue Rechtsprechung des BGH ändert, ist unwahrscheinlich. Wie der Aktienkurs in der Praxis „hochgerechnet“ werden soll, bleibt völlig unklar.
Bei dreisten Fällen wie denen der T-Online, wundert es keinen, wenn die Neigung von Privatanlegern, Aktien zur Altervorsorge zu kaufen, gering bleibt.
Der Schlussfolgerung des Autors, Aktionäre müssten sich auf niedrigere Abfindungszahlungen einstellen müssen, kann dennoch im Ergebnis nicht gefolgt werden. Die Abfindung wird im Spruchverfahren endgültig ermittelt. Negative Auswirkungen auf diese Verfahren dürfte das Urteil des BGH nicht haben.